Tuesday, February 28, 2017
Berlin Breitscheidplatz: die Kreuzung Kant/Budapester/Hardenbergstrasse als Chronometer
Zehn Wochen nach der Berliner Amokfahrt sind wesentliche Details des Ablaufs noch immer ungeklärt. Der LKW sei aus der Kantstrasse gekommen, hiess es anfangs von der Polizei. Wenn man gut aufpasste, erfuhr man zwei Tage später, dass er vor der Tat einmal um den Tatort herumgefahren war. Am nächsten Tag servierten Reuters, Bildzeitung und andere Massenmedien dem Volk dann das Dashcam-Video eines anonymen Autofahres, auf dem vorgeblich zu sehen ist, wie der LKW, von der Hardenbergstrasse kommend, in den Weihnachtsmarkt "rast". Wie hoch seine Geschwindigkeit genau war, konnte die Polizei mittlerweile sicherlich ermitteln. Sie ist diese Information der Öffentlichkeit allerdings schuldig geblieben. Zeugenaussagen dazu sind widersprüchlich; es gibt manche, die das "Rasen" bestätigen, andere sagen, unter vorgehaltener Hand, der LKW sei langsam gefahren.
Eine wortkarge Staatsanwaltschaft und Polizei machen die Lage nicht besser. Um das informative Chaos zu entknäueln, bleibt dem verantwortungsbewussten Staatsbürger also nichts anderes übrig, den Ablauf, insbesondere Fahrtweg und Geschwindigkeit, selbst zu rekonstruieren, so gut es eben geht. Es liegen tatsächlich zahlreiche Videos und Fotos vor; bei den allermeisten jedoch fehlt die für eine tragfähige Rekonstruktion unerlässliche Information, wann genau sie aufgenommen worden sind.
Dieser Artikel stellt ein Werkzeug zur Verfügung, um die Realzeit bekannter und eventuell noch auftauchender Videos auf die Sekunde genau zu bestimmen. Es ist die Ampelschaltung an der Kant/Budapester/Hardenbergstrasse. Diese ist erfreulicherweise im Minutentakt geschaltet.
Das Diagramm stellt einen Ampelzyklus (= 1 Minute) dar. Die schwarzen Segmente repräsentieren die Grünphasen der jeweiligen Ampel oder Fussgängerampel. Der Fussgängerweg über die Budapester Strasse hat zwei verschiedene Phasen, eine für jede Fahrbahn. Das Diagramm ist ausserdem "geeicht" auf die Uhr der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Die 12-Uhr Stellung des Diagramms repräsentiert den Moment, in dem der Minutenzeiger der Uhr von einer Stellung auf die nächste gleitet. Dafür braucht er 2 bis 3 Sekunden. Das ist recht langsam, mit etwas Mühe kann man aber den Moment erkennen.
Die Synchronisation von Ampelschaltung und Uhr gelingt mit Hilfe verschiedener Videos, allen voran das eines skeptischen "Privatdetektivs", der Tage später am Tatort ein Video drehte, dabei minutenlang an der Kreuzung verweilte und oft auch die Uhr im Bild hatte. Auch das wohlbekannte Hollitzer-Video oder das eines am Bikini wartenden Journalisten zeigen gelegentlich Ampelschaltungen und die Uhr. Und natürlich hat jeder Berliner oder Berlin-Besucher buchstäblich "jederzeit" die Gelegenheit, das Diagramm zu überprüfen. Eine Unschärfe von +-1 Sekunden ist dabei jedoch, schon allein wegen der Gelbphasen, zu berücksichtigen.
Unter der Voraussetzung, dass die Uhr der Gedächtniskirche genau geht, also der Zeiger immer zur vollen Minute auf die nächste Stellung rutscht, lassen sich nun reale Startsekunde und Endsekunde aller Videos bestimmen, in denen eine umschlagende Ampel zu sehen ist.
Das Dashcam-Video ist ein solcher Fall. Es ist aus zwei Teilen zusammengesetzt. Der erste Teil zeigt die Kreuzung und den LKW, wie er sie überquert. Die Sequenz wird gleich mehrmals gezeigt, zunächst von 0:00 bis 0:15. Ein anderer Abschnitt, von 0:24 bis 0:34, setzt später ein, läuft aber 3 Sekunden länger.
Gegen 0:31 sieht man, wie sich die Autos auf der Linksabbieger-Spur der Budapester Strasse langsam in Bewegung setzen: sie haben Grün. Vier Sekunden später, um 0:35, müsste folglich die Ampel der Kantstrasse auf Gelb/Grün schalten, doch kurz vorher erfolgt der Schnitt. Teil I endet also unmittelbar vor der Grünphase der Kantstrasse. Setzt man die sich überlappenden Schnipsel von 0:00-0:15 und 0:24-0:34 zusammen, ergibt sich insgesamt eine Sequenz von 18 Sekunden.
Der zweite Teil läuft von 0:35 bis 0:48, ein kurzer Teil davon wird anschliessend wiederholt. Um 0:47 schaltet die Fussgängerampel der Budapester Strasse, Seite Breitscheider Platz, auf Grün. Somit lässt sich auch Teil II in das Diagrammschema einordnen und zu Teil I in zeitliche Beziehung setzen.
Die Länge des Schnittes zwischen den beiden Teilen (bei 0:34/0:35) kann also auf die Sekunde genau bestimmt werden - allerdings zunächst ohne Kenntnis der Minuten. Er ist entweder 8 Sekunden lang, oder 1 Minute 8 Sekunden, oder 2 Minuten 8 Sekunden, und so fort. Nun sieht man aber in Teil 1 ganz andere Autos als in Teil 2 - die Szene hat sich völlig verändert. Eine solche Veränderung kann sich unmöglich in 8 Sekunden vollzogen haben.
Die zeitliche Differenz zwischen Teil I und Teil II beträgt demnach mindestens eine Minute. Die vom BKA verlautete Extrarunde um den Tatort legt nahe, dass Teil I vor der Umrundung entstand und Teil II zwei Ampelzyklen später. Das heisst aber nichts anderes, als dass der LKW im Dashcam-Video auf der Budapester Strasse bleibt und nicht, wie vom Sprecher suggeriert, dabei zu sehen ist, wie er auf den Weihnachtsmarkt rast.
Fragen ergeben sich zum anonymen Macher des Dashcam-Videos. Warum blieb der mindestens eine Ampelphase lang an Ort und Stelle, und warum filmte er den am Weihnachtsmarkt vorbeirauschenden LKW und nicht den, der zwei Minuten später tatsächlich auf den Markt fuhr?
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