Wednesday, December 21, 2016

Berliner Amokfahrt: die obskure hastige Freilassung des Naved B


n-tv

Note to my English-speaking readers: an English version of this article will appear soon.

Am Morgen nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz hatte die Berliner Polizei allen Grund, stolz zu sein. Sie hatte bereits zehn Minuten nach der Tat einen Verdächtigen festnehmen können und war sich nun sicher genug, diesen der Öffentlichkeit als den Fahrer des Amok-LKWs zu präsentieren. Es war ein 23jähriger Pakistani, genannt Naved B.

Ein Zeuge am Tatort - nennen wir ihn Zeuge X - hatte den Mann vom LKW weglaufen sehen und sich kurzerhand entschlossen, ihm zu folgen. Die Welt berichtet:
Als er den Verdächtigen fliehen sah, rannte er hinter ihm her – allerdings mit Sicherheitsabstand. Während des Laufs durch die Dunkelheit hatte er permanent die Notrufzentrale am Telefon und gab den Beamten fortlaufend die Position des Verdächtigen durch.

Nach etwa zwei Kilometern stoppte schließlich die Besatzung eines Streifenwagens den Verdächtigen an der Siegessäule. "Mit Hilfe dieses Zeugen war es uns möglich, den Verdächtigen zu fassen", erklärte Polizeisprecher Winfrid Wenzel. "Diese Zivilcourage kann uns heute etwas Mut machen." Die Berliner Polizei weiß zwar, wer der mutige Zeuge ist, geht aber davon aus, dass er anonym bleiben will.
Einem Bericht von "Bild" zufolge wurde Naved B noch in der Nacht an die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe überstellt; andere Meldungen besagen, die Überstellung stünde unmittelbar bevor. Doch dann kamen im Verlauf des Dienstags immer mehr Zweifel an seiner Täterschaft auf. Schlussendlich beantragte Generalbundesanwalt Peter Frank keinen Haftbefehl, weil kein dringender Tatverdacht vorliege. So kam Naved B am Dienstag wieder frei.

Die Freilassung wird in den Pressemitteilungen folgendermassen begründet:

-  Naved B bestritt die Tat;
-  seine Kleidung hatte keine Blutflecken; die wären aber zu erwarten gewesen, weil der polnische Beifahrer Stichwunden und eine Schusswunde hatte;
-  es liessen sich an ihm keine Schmauchspuren feststellen, die nachgewiesen hätten, dass er die Schusswaffe in der Hand gehabt hätte;
-  Naved B sei nicht mit dem flüchtenden LKW-Fahrer identisch; Zeuge X irre sich.

Die ersten drei Punkte sind nicht wirklich von Gewicht; weder das Bestreiten der Tat noch fehlende Blut- und Schmauchspuren können Naved B so stark entlasten, dass er als Täter nicht in Frage kommt.

Bleibt der entscheidende vierte Punkt, und hier wird's schwammig; mal heisst es,  Zeuge X habe sich korrigieren müssen und den Flüchtenden gar nicht von Anfang an verfolgt. Diametral entgegengesetzt ist die Aussage des Berliner Polizeipräsidenten Klaus Kandt, der Beginn des Fluchtweges sei bekannt und der Kontakt zum Flüchtenden erst später verloren gegangen. Die verdächtige Person stand laut Kandt nicht lückenlos vom Fahrzeug bis zur Festnahme unter Beobachtung. Der Festgenommene habe lediglich auf die Beschreibung gepasst.

Stunden vorher war Zeuge X von Polizeisprecher Wenzel noch in höchsten Tönen gelobt worden. Nun wird an seiner Aussage von zwei entgegengesetzten Seiten herumgezerrt: er habe den Verdächtigen nicht von Anfang an verfolgt - beziehungsweise er habe den Verdächtigen von Anfang an, aber nicht bis zum Schluss verfolgt. Eine überzeugende Argumentation ist das nicht.

Obendrein meldet die BZ mit Berufung auf Polizeiquellen: "Der Festgenommene stimme demnach auch nicht mit Videoaufnahmen und Zeugenaussagen überein." Und hier nähern wir uns einer empfindlichen Schwachstelle der polizeilichen Argumentation.

Laut Welt wurde die Polizei von mehreren Anrufern informiert, die den Mann aus dem LKW springen und davonlaufen sahen; nur einer von diesen, Zeuge X, nahm die Verfolgung auf. Naved B hätte vor seiner Freilassung diesen Zeugen gegenübergestellt werden müssen, um seine Nicht-Täterschaft zweifelsfrei nachzuweisen; das geschah jedoch allem Anschein nach nicht. Die Zeugen, deren Angaben angeblich nicht mit dem Habitus von Naved B übereinstimmten, hätten so Gelegenheit bekommen, ihre Aussage zu bekräftigen oder zurückzuziehen. Warum also kam es zu keiner Gegenüberstellung?

Es gibt allerdings einen Zeugen, dem Naved B mit Sicherheit gegenübergestellt wurde: Zeuge X. Zum Zeitpunkt der Festnahme befand dieser sich ganz in der Nähe im Tiergarten und war in Kontakt mit der Polizei. Man kann davon ausgehen, dass er innerhalb von wenigen Minuten bei der Polizei eintraf und Gelegenheit hatte, Naved B vor Ort als den flüchtenden LKW-Fahrer zu identifizieren - und dass er das positiv bestätigte.

In einigen Meldungen heisst es,  Zeuge X wolle anonym bleiben. Anderswo heisst es lediglich, die Polizei gehe davon aus, dass er anonym bleiben wolle. Man kann nun sicher davon ausgehen, dass er  anonym bleiben und seine Vorstellung, in einem funktionierenden Rechtsstaat zu leben, einer kritischen Überprüfung unterziehen wird.