Kölner Stadt-Anzeiger |
Bundesanwalt Thomas Beck ist Leiter der Abteilung Terrorismus beim Generalbundesanwalt und referierte am 3. Juli vor dem Innenausschuss des Berliner Parlamentes zu der LKW-Terrorattacke in Berlin. Die Sitzung war öffentlich, ein Protokoll ist verfügbar. Während es in seinem Vortrag primär um die Personalie Amri ging, fasste er auch kurz den Ablauf am Tattag zusammen. Dabei fiel ein höchst bemerkenswerter Satz:
Am 19. Dezember 2016 fuhr gegen 20 Uhr in Berlin ein Sattelschlepper der Firma Scania nebst Auflieger mit polnischem Kennzeichen, von der Kantstrasse kommend, mit einer Geschwindigkeit von ca. 49 km/h in die Einfahrt des Weihnachtsmarkts an der Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz.Schon von der Kantstrasse kommend hätte bei den Anwesenden tiefes Stirnrunzeln hervorrufen müssen, denn die Version "Kantstrasse" kursierte nur in den allerersten Tagen nach dem Anschlag, danach griff allgemeiner Konsens Platz, dass der LKW aus der Hardenbergstrasse gekommen sein musste. Kombiniert mit einer Geschwindigkeit von ca 49 km/h wird aber regelrechter Unfug draus, denn der LKW hätte eine extrem enge 120-Grad-Kurve nehmen müssen (von der Kantstrasse über die Kreuzung zur Eintrittsstelle neben der Fussgängerampel der Budapester Strasse).
Reaktionen oder Nachfragen blieben aber aus. Offenbar merkte niemand im Ausschuss - oder wollte niemand merken - dass in dem von Bundesanwalt Beck kolportieren Szenario ein schwerer Fehler steckt. Der LKW kann die Kurve nicht so schnell genommen haben. Vielleicht kannten die Zuhörer ja nicht den Eintrittspunkt und vermuteten, der LKW sei von der Kantstrasse direkt, also unter Umgehung der Kreuzung, auf den Markt gefahren. In diesem Fall hätte er lediglich einen kleinen Schlenker nach rechts machen müssen. Das Schadbild am Breitscheidplatz lässt aber diese Version nicht zu, obwohl sie von mehreren Zeitungen genau so illustriert worden ist:
Frankfurter Allgemeine |
Spiegel |
Stern |
Wie konnte es zu diesen synchronen Falschgrafiken, die alle vom 20. Dezember datieren, kommen? Wie sich nach kurzer Recherche herausstellt, war es die Berliner Polizei, die am 19.12. um 23 Uhr die Information "Kantstrasse" in die Welt setzte:
Laut dem Pressesprecher der Berliner Polizei, Thomas Neuendorf, kam der Lastwagen von der Kantstraße auf den Weihnachtsmarkt gefahren und ist in der Gasse zwischen den Buden durchgefahren.https://www.vice.com/de/article/ypvkd5/lkw-rast-in-den-weihnachtsmarktpolizei-meldet-bisher-neun-tote
Wie die Polizei zu dieser Information kam, ist nicht schwer zu erraten. Es gab wohl reichlich Zeugen, die die Anfahrt des LKWs beobachtet hatten. Offenbar ergab sich bei deren Befragung ein eindeutiges Bild zugunsten der Kantstrasse. Hätte es unter der Zeugenschaft einen massiven Widerspruch zwischen Version "Kantstrasse" und Version "Hardenbergstrasse" gegeben, hätte sich die Polizei in dieser Frage mit Sicherheit bedeckt gehalten.
Mit der Information "Kantstrasse" im Gepäck erging dann in den Medienhäusern ein Eilauftrag an die jeweiligen Grafiker, ein Bild des Tatorts anzufertigen. Dabei wählten die verantwortlichen Journalisten unisono die Route von der Kantstrasse direkt auf den Markt, ohne sich zu vergewissern, ob der Einfahrtspunkt überhaupt korrekt war. Und so nahm das Desaster der Fake News-Grafiken seinen Lauf.
Nach und nach sickerte jedoch wohl die Erkenntnis durch die Redaktionen, dass da irgendetwas nicht mit dem konkreten Bild des Tatorts zu vereinbaren war. Nun kamen Formulierungen ins Spiel, die immer noch die Kantstrasse erwähnten, aber nicht zwingend als Anfahrtsstrecke festlegten:
Der Lastwagen fuhr laut Polizei im Bereich Kantstraße Ecke Budapester Straße gegen 20 Uhr auf einen Gehweg nahe dem Weihnachtsmarkt.http://www.bento.de/today/berlin-lkw-rast-in-weihnachtsmarkt-am-breitscheidplatz-polizei-spricht-von-anschlag-1077350/
Die Berliner Polizei ging indes immer noch von der Kantstrasse als Anfahrtsweg aus. Sie klapperte am 21. 12. die Geschäfte an der Kantstrasse ab, um etwaiges Videomaterial von Überwachungskameras in die Hand zu bekommen. Noch immer ist von der Hardenbergstrasse nicht die Rede.
Der Tag danach, der 22.12., brachte dann die Veröffentlichung des berühmt-berüchtigten Dashcam-Videos, in dem der LKW eindeutig aus der Hardenbergstrasse kommt. Für die "öffentliche Meinung" waren damit die Tage der Kantstrasse gezählt. Die Ermittlungsbehörden enthielten sich allerdings einer Stellungnahme zu dem Video. Und wie der Vortrag von Bundesanwalt Beck zeigt, ist die Kantstrasse dort offenbar noch nicht zu den Akten gelegt.
Becks Aussage ist eine weitere verwirrende Beigabe zu dem bereits existierenden Potpourri bezüglich Fahrtweg und Geschwindigkeit des LKW. Wie bereits berichtet, legte sich die ZEIT in einem rückblickenden Artikel darauf fest, dass der LKW mit nur 15 km/h über den Weihnachtsmarkt fuhr. Sie stützte sich dabei auf GPS-Daten, die ihr offenbar zugespielt worden waren. Der Gegensatz zwischen Bundesanwaltschaft (Kantstrasse/49 km/h) und ZEIT (Hardenbergstrasse/15 km/h) könnte nicht krasser sein.
Der ZEIT-Artikel behauptet, ebenfalls basierend auf GPS, der LKW habe um 19:57 am Ernst-Reuter-Platz "gewendet". Um 20:02 sei er dann - wie bekannt - auf den Markt gefahren. Nun ist es vom Ernst-Reuter-Platz bis zum Breitscheidplatz nicht weit, etwas mehr als 1 Kilometer. Die wenigen Ampeln auf dieser Strecke sind in grüner Welle geschaltet. Zur Zeit des Anschlags gab es nur sehr mässigen Verkehr, das weiss man von Videos. Mit anderen Worten: der LKW hatte so gut wie freie Fahrt. Er hätte für die Strecke eigentlich nur eineinhalb bis zwei Minuten brauchen sollen. Dass er ganze fünf Minuten brauchte, wirft Fragen auf. Was hat die Verzögerung verursacht?
Wie bereits berichtet, erklärte BKA-Chef Holger Münch dem Innenausschuss des Bundestages in einer geheimen Sitzung am 21. 12., der LKW habe den Tatort Breitscheidplatz erst einmal umrundet, bevor er auf ihn auffuhr. Wenn der LKW um 19:57 am Ernst-Reuter-Platz war und um 19:59 am Breitscheidplatz ankam, hätte er mit drei Minuten (bis 20:02) noch ausreichend Zeit gehabt, um diese Umrundung zu realisieren. Bundesanwalt Beck könnte also Recht gehabt haben, als er sagte, der LKW sei aus der Kantstrasse gekommen. Womit er mit Sicherheit Unrecht hatte, ist die Geschwindigkeit von "ca. 49 km/h".
Die Angelegenheit bedarf dringendst der Klärung.