Thursday, January 05, 2017

Berliner Amokfahrt: Flucht durch den Tiergarten



Die Berliner Polizei konnte der "Welt" 12 Stunden nach dem Weihnachtsmarkt-Anschlag die Geschichte einer erfolgreichen Verfolgungsjagd zustecken, die sicherlich noch nach Generationen weitererzählt worden wäre: die Geschichte des mutigen Zeugen ("Zeuge X"), der dem Täter durch den dunklen Tiergarten nachlief und der Polizei dabei telefonisch dessen Fluchtroute durchgab. Hollywood hätte womöglich Interesse angemeldet.

Doch daraus wurde nichts. Die Geschichte verschwand schneller von der Bildfläche, als sie ans Tageslicht gekommen war. Die Aussage von Zeuge X wurde in Zweifel gezogen, der vermeintliche Täter freigelassen, und kurze Zeit später stand ein anderer Mann als Hauptverdächtiger im Mittelpunkt.

Warum die Berliner Polizei sich zunächst so sehr auf Zeuge X verliess und ihn dann so schnell fallen liess, ist ein Mysterium. Da hatte also eine Streife einen rennenden Mann an der Siegessäule aufgelesen und festgehalten, weil Zeuge X sie telefonisch zu diesem Ort hingelotst hatte. Bedankten die Polizisten sich dann bei Zeuge X - der nicht weit entfernt irgendwo im Tiergarten war - und schickten ihn zurück zum Breitscheidplatz? Wohl kaum; sie brauchten ihn ja zur Identifizierung des Mannes, den sie angehalten hatten. Und da Zeuge X ohnehin in der Nähe war, dürfte er bald zu ihnen gestossen sein und den Mann, dessen Name mit Naved B oder Navid B angegeben wird, positiv als den LKW-Fahrer identifiziert haben.

Man kann diesen Ablauf angesichts des Statements von Polizeisprecher Wenzel als gegeben annehmen. Zeuge X war der Hauptbelastungszeuge, aber es ist durchaus denkbar, dass noch andere Zeugen vom Breitscheidplatz, die den flüchtenden LKW-Fahrer gesehen hatten, bei der Polizei vorbeikamen und Naved B zu Gesicht bekamen. Falls das so war, haben sie anscheinend Zeuge X's Einschätzung eher bestätigt als bezweifelt.

Doch dann verschwanden Naved B und Zeuge X innerhalb von Stunden von der Bildfläche. Zeuge X wurde implizit des Irrtums bezichtigt. Er habe den Täter im Tiergarten aus den Augen verloren. In den anschliessenden offiziellen Erklärungen ist das Bemühen spürbar, die schiere Existenz von Zeuge X zu verschleiern. Polizeipräsident Kandt formuliert im Passiv: "der Fahrer ist ein Stück weit verfolgt worden", "der Beginn des Fluchtwegs sei bekannt", "der Verdächtige stand nicht lückenlos unter Beobachtung"...

Woher die neue Bewertung kommt, dass Zeuge X den Täter nicht kontinuierlich "auf dem Schirm" gehabt habe, bleibt unklar. Hat er seine Aussage von sich aus am Dienstag morgen - denn um diese Zeit kippte die Sache - relativiert? Oder gab es plötzlich Gründe, an seiner Glaubwürdigkeit zu zweifeln? Hatten die Polizisten, die mit ihm zusammen Naved B gejagt hatten, ihre Aussagen revidiert? Reichte denn die Tatsache, das Zeuge X Naved B bei einer Gegenüberstellung als Täter identifiziert hatte - wovon man, wie dargelegt, sicher ausgehen kann - nicht aus, um einen dringenden Tatverdacht beizubehalten und einen Haftbefehl zu beantragen?

Für die Bundesanwaltschaft reichte das bekanntlich nicht aus - aber Naved B ist immer noch "unter Kontrolle" der Berliner Polizei, unter einer Art Hausarrest mit gelegentlichem Ausgang. Offiziell heisst es dort, man wolle ihn schützen, aber der Eindruck drängt sich auf, dass die Berliner Ermittler die Aussage von Zeuge X noch nicht gänzlich in Abrede stellen wollen.