Saturday, January 07, 2017

Berliner Amokfahrt: Flucht über den Bahnhof Zoo



Die Sprecherin der Bundesanwaltschaft, Frauke Köhler, konnte der Presse am 4. Januar interessante Neuigkeiten über die Flucht des Täters mitteilen:
Nach dem eigentlichen Anschlagsgeschehen konnten wir feststellen, dass kurz nach der Tat eine männliche Person im Bereich Bahnhof Zoo von einer Videokamera aufgezeichnet worden ist. Wir gehen davon aus, dass es sich bei dieser männlichen Person um Anis Amri handelt. Die Bilder, die wir einsehen konnten, legen nahe, dass Amri wusste, dass er sich bewusst war, dass er aufgezeichnet wird von dieser Videokamera. Er wendet sich der Kamera zu und zeigt in die Kamera den sogenannten - ich hoffe ich spreche das jetzt einigermassen richtig aus - Tauhid-Finger. Das ist ein erhobener Zeigefinger. 
Die Bundesanwaltschaft ist sich also sehr sicher, dass der Mann in diesem Video tatsächlich Anis Amri ist, sonst hätte sie das nicht offiziell mitgeteilt. Das wirft einige interessante Fragen auf und lädt angesichts der bestehenden Ungereimtheiten dazu ein, den Fluchtweg des Täters im Bereich Bahnhof Zoo etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

Der Beginn des Fluchtwegs ist unstreitig. Es gibt viele Augenzeugen für den Anfang der Flucht, manche davon meldeten sich sofort bei der Polizei. Schon die allerersten Berichte besagen, dass der Täter vom LKW aus in Richtung Bahnhof Zoo wegrannte. Etwas später kamen Meldungen hinzu, ein Verdächtiger sei nach einer Flucht durch den Tiergarten an der Siegessäule festgenommen worden. Schliesslich bestätigte die Berliner Polizei, dass ein Zeuge dem Mann durch den Tiergarten nachgelaufen war und so entscheidend zur Festnahme beigetragen hatte.

Vom Bahnhof Zoo bzw. dem vorgelagerten Hardenbergplatz aus gibt es nur eine Verbindung zum Tiergarten, die der Täter genommen haben könnte, einen Fussweg entlang der Bahngleise. Dieser Ausschnitt zeigt den Anfang des Fusswegs:

Google Street View

Um von der Hardenbergstrasse möglichst schnell und unauffällig zu diesem Punkt zu kommen, wählte der Täter mit hoher Wahrscheinlichkeit den Bürgersteig direkt am Zoo entlang, anstatt mitten über den Platz mit seinen zahlreichen Hindernissen zu laufen, als da wären Menschen, Busse, Bussteige, Poller, usw. Das Diagramm skizziert den mutmasslichen Fluchtweg:




Ein Abgleich dieser Strecke mit den neuen Informationen der Bundesanwaltschaft wird leider durch deren Vagheit erschwert: war der Standort der besagten Kamera innerhalb des Bahnhofs oder draussen vor dem Bahnhof, und wenn draussen wo genau? Auf Fotos lassen sich mindestens zwei Überwachungskameras am Vordach des Bahnhofsgebäudes festmachen. Ausserdem könnten sich natürlich noch Kameras am gegenüberliegenden Gebäude (Hardenbergplatz 2) oder auf dem Platz selbst befinden, obwohl man auf Bildern keine erkennen kann.

Wie dem auch sei, die neuen Informationen passen überhaupt nicht zu dem, was man von Augenzeugen über den flüchtenden LKW-Fahrer weiss. Es ist unfassbar, dass der Täter sich bei seiner Flucht den zeitlichen Luxus erlaubte, seinen Lauf zu unterbrechen, sich der Kamera zuzuwenden und eine überflüssige Geste vorzutragen. Sollten die Aufnahmen von einer Aussenkamera am Bahnhofsgebäude gemacht worden sein, wundert man sich ausserdem, dass der Täter einen Fluchtweg mit so vielen Menschen und anderen Hindernissen wählte anstatt am Zoo entlang zu laufen.

Sollten die Aufnahmen jedoch innerhalb des Bahnhofsgebäudes gemacht worden sein, steht das gesamte Narrativ der Flucht in Frage. Dann suchte der Täter nämlich nicht durch das Dunkel des Tiergartens zu entschwinden (Polizeisprecher Wenzel), sondern im Gewusel des Bahnhofs. Und auch wenn eine kontinuierliche Beschattung des Täters durch "Zeuge X" schlussendlich verneint wurde, versicherte Polizeipräsident Kandt, dass der Beginn des Fluchtwegs bekannt und der Kontakt zum Flüchtenden erst später verloren gegangen wäre. Wann genau "später" bleibt unklar. Sollte Zeuge X den Täter aber schon am Hardenbergplatz aus den Augen verloren haben, weil der im Bahnhof verschwand, hiesse das, dass er im Tiergarten jemand anderen verfolgte, der aus irgendwelchen Gründen nachts durch den Park rannte. Die Festnahme des rennenden Naved B - der ja nicht vom Bahnhof Zoo gekommen sein will - war dann nur der letzte einer Serie unglaublicher Zufälle.

Um diese kognitive Diskrepanz bei der kriminalistischen Aufarbeitung des Terroranschlags zu lindern täte die Bundesanwaltschaft deshalb gut daran, zu präzisieren, wo genau und wann genau die Aufnahmen mit dem mussmasslichen Anis Amri entstanden.